Welchen Komponisten sich Michael Korstick verbunden fühlt
Epochen
„Die Antipoden des Barock sind für mich Johann Sebastian Bach und Domenico Scarlatti, auch wenn sie sich nicht gekannt haben. Bach verkörpert gewissermaßen die kosmische Ordnung in der Musik, bei ihm sind die musikalischen Verflechtungen ganz abstrakt, nach ewigen Ordnungsprinzipien angelegt. Jede Note steht bei Bach genau deshalb da, wo sie steht, weil sie dort stehen muss. Es gibt immer einen höheren Sinnzusammenhang. Seine Musik ist dadurch quasi unabhängig von ihrer Zeit und deren Instrumenten. Man kann Bach genauso gut auf dem Synthesizer spielen, die Substanz der Musik wird davon nicht berührt. Für Pianisten ist das eine ganz spannende Angelegenheit: wo ist bei dieser geordneten Musik Raum für Interpretation? Und welche Rolle spielt der moderne Flügel, den Bach ja nicht kannte? Spielt man Bach auf dem Klavier, dann ist das quasi schon eine Transkription. Man muss also einerseits ein Stilempfinden haben, um zu wissen, was geht und was nicht, andererseits die Offenheit, mit allen Möglichkeiten des Instruments an Bachs Musik heranzugehen.
Scarlatti, der Antipode, fasziniert mich deshalb, weil da überhaupt nichts mit kosmischer Ordnung ist. Der Mann war ein genialer Chaot, ein Improvisator. Seine 555 Sonaten sind einfach so aus ihm herausgeflossen, Fragen wie Struktur oder Stimmführung haben ihn praktisch nicht interessiert. Würde man hier und da ein paar Noten austauschen, würde das überhaupt nichts ändern. In den überlieferten Notenausgaben gibt es gewaltige Abweichungen, hier fehlen ein paar Takte, dort stehen andere Noten oder Rhythmen, all das macht überhaupt nichts, alles funktioniert so oder so. Zwischen diesen beiden Gegenpolen spielt sich im Barock unendlich viel ab, und es ist schon bezeichnend, dass man am ehesten mit Barockmusik viele Nicht-Klassikhörer unmittelbar ansprechen kann. Barockmusik hört einfach jeder gern, und sei es im Aufzug oder im Auto.“
„Die beiden sind sich ja ziemlich sicher begegnet, auch wenn von einer solchen Begegnung keine Zeugnisse existieren. Aber irgendwie denke ich, dass sie sich wohl kaum viel zu sagen hatten, nicht nur wegen des Altersunterschieds von 14 Jahren. Beethoven war halt ein begabter Achtzehnjähriger, Mozart mit seinen 32 Jahren aber eine Berühmtheit. Es lagen also Welten zwischen den beiden, auch in ihrem Musikverständnis. Mozart war der große Vollender, wenn er ein neues Stück schrieb, hatte er es so gut wie fertig im Kopf und musste es nur noch zu Papier bringen. In diesem Prozess brauchte es auch keine Entwicklungen. Wenn Mozart wusste, für welches Medium, für welchen Zweck er etwas schreiben wollte, dann sprang der Computer in seinem genialen Kopf an und lieferte auf Knopfdruck das passende Stück. Kein Wunder, dass er 630 Werke in den wenigen Jahren seines kurzen Lebens schreiben konnte. Und ein jedes ist perfekt!
Um dagegen zu verstehen, wie Beethoven gearbeitet hat, braucht man sich bloß seine Manuskripte anzuschauen: die sehen oft aus, als ob eine Schar Hühner über die Notenblätter gelaufen wäre. Da ist oft völliges Chaos. Beethoven hat Musik nach und nach entwickelt, da war nichts fertig im Kopf, er war der Meister des prozesshaften Komponierens. Jedes Mal fing er bei Null an und entwickelte nach und nach die Form und den Ausdruck eines Stücks. Das ist eine wahnsinnig anspruchsvolle Art zu komponieren, aber so floss immer unendlich viel von seiner Persönlichkeit hinein. Das ist für den Interpreten enorm reizvoll, weil man sich dadurch in diese Persönlichkeit hineinversetzen kann. Wenn man als Pianist Beethoven spielt, kann man durchaus auch mal einen Vulkanausbruch simulieren. Bei Mozart ist das nicht drin. So ist der Mozart-Typ des Pianisten in der Regel kein optimaler Beethoven-Interpret. Andersherum geht es vielleicht eher: wenn man ein guter Beethoven-Spieler ist, dann heißt das eben nicht, dass man kein guter Mozart-Spieler sein kann, nur muss man sich den Mozart dann hart erarbeiten.
Also Leidenschaft für Beethoven hin oder her: im Musikerhimmel würde ich ihm schon ganz gern ein paar Detailfragen stellen, was denn nun an dieser oder jener Stelle wirklich richtig ist. Aber als Mensch interessiert er mich nicht wirklich, für mich lebt er in seiner Musik. Ich würde ihn dann ganz schnell fragen, wo ich denn den Herrn Mozart finden könnte!“
„In der Symphonik gibt es den großen Gegensatz der Romantik zwischen Bruckner und Mahler. Bruckner-Dirigenten können oft mit Mahler nichts anfangen, und umgekehrt gilt das auch. Dirigenten, die beide Komponisten gleich schätzen und gleich gut darbieten, sind die große Ausnahme.
Bei den Pianisten ist es ähnlich, da stellt sich die Frage: mit wem ist die Seelenverwandtschaft größer, mit Liszt oder mit Chopin? Liszt war ein Extremist in seiner ganzen Ausdruckshaltung, wohingegen Chopin viel ausgeglichener war. Für mich ist es gar keine Frage, dass ich mich viel mehr mit Liszt verbunden fühle als mit Chopin, obwohl ich den auch sehr liebe. Aber wenn man mir die Pistole auf die Brust setzen würde und sagen: ab morgen darfst Du nur noch Chopin oder Liszt spielen, dann würde es mir relativ leicht fallen zu sagen: okay, nicht schießen, dann bleibe ich in Gottes Namen bei Liszt!“
„Man liest so oft, dass das 19. Jahrhundert das goldene Zeitalter des Klaviers gewesen sein soll. Aber wie soll man denn dann das 20. Jahrhundert nennen? Die Sprache der Musik und des Klaviers haben an der Schwelle zur Moderne eine so unglaubliche Entwicklung gemacht, die in alle möglichen Richtungen ging. Mit irgendwelchen Kategorien kann ich nichts anfangen. Da würde ja schon mein ‚anderer‘ Lieblingskomponist Sergei Rachmaninoff, der immerhin bis 1943 gelebt hat, mal gleich durchs Raster fallen.
Wenn ich jetzt eine Liste aufstellen müsste von Komponisten, die mich faszinieren, würde sie wahrscheinlich endlos aussehen und immer noch unvollständig sein. Ich bin natürlich sehr glücklich, dass ich relativ viele Werke des 20. Jahrhunderts aufnehmen konnte, so gut wie alles von Debussy, Koechlin, Kabalevsky und Ginastera zum Beispiel, aber das ist wirklich nur die Spitze des Eisbergs. Dabei spiele ich genauso gern Ravel, Bartók und Prokofieff, um jetzt mal nur die wichtigsten Namen zu nennen. Und es hört ja nie auf, es gibt zum Glück immer weiter Neues und Hörenswertes von lebenden Komponisten – um alles zu machen, was interessant ist, reicht ein Leben gar nicht aus!“